Kaum jemand hat es mitbekommen, und das ist auch gut so: Ich war ein paar Monate bei indenti.ca. Das ist aus Nutzersicht so eine ähnliche Idee wie Twitter gewesen. Es ist möglich, kurze Statusmeldungen abzusetzen, Links zu schleudern, Meldugen anderer Leute zu wiederholen (»sharen« ist eines der blödesten Wörter in diesem Kontext) und zu kommentieren.
So weit, so gewöhnlich.
Das war einmal.
Aus einem Grund, den ich aus Nutzersicht nicht nachvollziehen können muss, haben sich die Macher von identi.ca dazu entschlossen, ein anderes Backend zu verwenden. Sie werden ja wohl einen Grund gehabt haben. Also einen anderen Grund, als die Nutzer zu vertreiben…
Und außerdem kann man das machen. Der Nutzer bekommt ja im Idealfall nichts vom Backend mit, und wenn hinterher die gleiche Funktion (und womöglich gar die eine oder andere Zusatzfunktion) zur Verfügung steht, wird das eher begrüßt.
Statt hier jetzt in die Details zu gehen, gebe ich eine kurze, unvollständige Anleitung:
Wie man eine derartige Umstellung so macht, dass man dafür von vielen Menschen verflucht wird
- Einfach machen
Dieses Kommunizieren von Gründen und irgendwelche Vorabhinweise an die Nutzer sind nicht weiter erforderlich. Die von Nutzer bei der Registrierung angegebene Mailadresse kann man ja nicht einfach dazu benutzen, so etwas wie »Am [Datum hier einsetzen] stellen wir identi.ca um, und das ist eine größere Änderung, so dass es auch Probleme geben kann und möglicherweise geben wird. Schaut euch mal [Link auf eine Beschreibung] an, um zu lesen, warum wir das machen, was wir geplant haben und was das für euch bedeuten wird« an die Nutzer zu mailen. Die merken es ja früh genug. - API? Drauf geschissen!
Wer braucht schon eine API, wenns doch auch eine Website gibt?! Also kann die alte API einfach verworfen und durch eine neue ersetzt werden. Und zwar durch eine vollständig neue. Es weiß ja jeder, wie sehr die ganzen proggenden Leute freuen, wenn sie von vorne anfangen dürfen und bislang funktionierende Skripten und Integrationen in andere Programme einfach wegwerfen dürfen. Das sorgt für Freude bei den Anwendern, allen Programmierern und bei ein paar Leuten, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Sollen sie doch froh sein, dass sie mal ein bisschen Abwechslung im Leben haben! Und wer einen dieser Multiprotokoll-Clients benutzt, bekommt als knackigen Bonus eine völlig irreführende Fehlermeldung, die keinen Aufschluss über die wirkliche Ursache des Problems gibt. - Brutalstmögliches Website-Redesign
Zur Abwechslung gehört natürlich auch, die Website so sehr anders zu machen, dass die Nutzer nichts mehr wiederfinden. Dabei ist darauf zu achten, dass der gesamte Aufbau der Navigation vollständig anders ist, um den Nutzern möglichst viel Spaß beim Neulernen ihrer gewohnten Nutzungsreflexe zu gewähren. - Logindaten ungültig machen
Damit auch jeder merkt, dass sich wirklich etwas geändert hat, ist dem Nutzer eine Meldung zu servieren, dass er sein Passwort zurücksetzen muss, wenn er den Dienst weiterhin nutzen will – nebst einem Link, wo er das tun kann. Dort bekommt er dann einfach eine Möglichkeit, sich mit einer Mail einen Link auf eine Seite zum Ändern des Passwortes zusenden zu lassen, eine Mailadresse hat er ja angegeben. Auf gar keinen Fall dürfen solche Mails automatisch versendet werden, und auf gar keinen Fall darf der Hinweis überdeutlich sichtbar platziert werden, sonst klappt es noch bei jedem, was dem Angebot seinen elitären Reiz nimmt. Um die Nutzererfahrung aus der S/M-Hölle¹ zu verbessern, empfiehlt es sich, dafür Sorge zu tragen, dass der Mailversand nur jedes fünfte Mal klappt, es aber keine Fehlermeldungen irgendeiner Art gibt, wenn er nicht klappt. In diesem Internet, in dem immer alles auf ein paar Klicks verfügbar ist, können sich die Leute ja ruhig einmal in Geduld üben. - Performance-Probleme
Ganz wichtig ist noch, dass alles fühlbar langsamer wird, gern auch einmal angereichert um Serverüberlastungen. Die größere Behäbigkeit aller Abläufe gibt einen Eindruck von Neuartigkeit und erfreut immer, da sie mit der Verlangsamung das Gefühl einer gründlicheren, besseren Datenverarbeitung vermittelt. - JavaScript ist besser
Gute alte HTML-Links sind eine Idee aus der Steinzeit, besser ist JavaScript. Am besten tonnenweise, aber dafür nur halb funktionierend. Wer so doof ist, einen anderen Browser als den Firefox, den Internet Exploiter oder Chromium zu verwenden und dann damit Probleme hat, kann ja einen anderen Browser nehmen. Der ist schließlich besser. Sonst würden die Entwickler den ja nicht nehmen. - Nicht funktionierende Navigationselemente
Das ganze JavaScript ist natürlich nur gut, wenn es zusammen mit nicht funktionierenden Navigationselementen kommt. Am besten, ein paar auffällig gefärbte Bildchen in die Titelleiste der Seite einbauen, die anzeigen, dass Interaktionen stattfinden. Wenn man darauf klickt, wird ein Layer mit kurzen Hinweistexten und Links geöffnet. Wenn man auf die Links klickt, die da drin sind, funktionieren diese Links einfach nicht. Die direkte Verfügbarkeit dieser menschlichen Interaktionen auf einfachen Klick ist ja quasi eine Entwertung; besser ist es, wenn der Nutzer sich den Kram, von dem er in einer halb funktionierenden Anzeige erfahren hat, selbst zusammensuchen muss. Das regt zur Besinnung an, und es gewährt das im Internet so seltene Erlebnis, auch einmal sehr mühsam zu einem Erfolg zu kommen. - Kernfunktionen müssen nicht funktionieren
Wenn es die Kernfunktion ist, schnell einen kurzen Text zu verfassen, muss dies nicht etwa in einer<TEXTAREA>
geschehen, sondern in einem in JavaScript implementierten Editor, der nicht funktioniert. Wenn dieser Editor beim Schreiben mitten im Wort die Zeile umbricht, dies aber nicht zu einem Zeilenumbruch in der Mitteilung führt; wenn er andererseits das Getippte wiedergibt, aber in der Mitteilung dann einfach irgendwo die Zeile umbricht, so dass die Formatierung flatterhaft und unlesbar wird, ist das schon gut. Nun muss er nur noch die Eigenschaft bekommen, Wörter, Wortbestandteile und Buchstaben bei der Eingabe zwar anzuzeigen, aber dennoch zu verschlucken. Auf diese Weise wird das Bewusstsein für die Wichtigkeit einer Kernfunktion geschärft, und das kann gar nicht scharf genug sein! - Neue Funktionen müssen nicht funktionieren
Eine neue Funktion tritt erst dadurch richtig zur Geltung, dass sie nicht nutzbar ist. Wenn es zum Beispiel möglich ist, ein Bild hochzuladen, dann sollte das auch zu einer unvergesslichen Erfahrung beim Nutzer führen. Zunächst muss der Upload in JavaScript gecodet sein, weil das einfach besser ist als HTML und HTTP. Wichtig dabei ist, dass die Uploadmöglichkeit ein in JavaScript eingeblendeter Layer ist, der so groß ist, dass ein Klick auf den Upload-Button nur mit maximiertem, bildschirmgroßen Browserfenster möglich ist – dank der absoluten Positionierung des Layers hilft Scrollen in diesem Fall nicht. Wenn der Nutzer endlich die Maximieren-Schaltfläche in seiner Fensterdekoration klickt, um die Hochladen-Schaltfläche für die Webanwendung klicken zu können, sollte ihm für diese kleine Rätsellösung auch ein leckerer Bonbon gegeben werden, um ihn auch weiterhin zu motivieren: Eine Fehlermeldung, dass der Upload nicht möglich ist. - Das Design bestimmt das Bewusstsein
Schließlich muss das alles in einem »modernen« Design daherkommen, das in seinen wichtigsten Elementen von Diaspora, Google Doppelplusgut oder Twitter abgeschaut wurde. So wird jedem bewusst, wo der Unterschied liegt… - Wer will sich schon abmelden
Um dieser großartigen Erfahrung die Krone aufzusetzen, darf es nach der Umstellung keine Möglichkeit mehr geben, den Account zu löschen. Das ist besser so, denn sonst würden ja die Betreiber entmutigt, weil sie in den Statistiken sehen, dass ganz viele undankbare Nutzer einfach weggegangen sind, nachdem sie eine so gute, fortschrittliche und vor allem erneuerte Website vor sich gesehen haben. Außerdem verbessert es die Bindung der unwilligen Nutzer an die nicht mehr genutzte Website, weil sie weiterhin Mails für die eine oder andere Aktivität dort bekommen – bis auch das schließlich aufhört, weil niemand mehr irgendwelche Aktivitäten verursacht. Bindungen sind wichtig in diesem Netz mit seinen hunderten Millionen Websites!
Wer diese einfachen Tipps beherzigt, wird keine Probleme damit haben, eventuelle Nutzer seiner Webanwendung zum Schimpfen und Fluchen zu bringen und sie schließlich äußerst nachhaltig zu vergraulen.
¹S/M ist meine Abk. für »social media«. Aus Gründen.