Es ist nicht so, dass ein monatelang ausgearbeiteter, beinahe neunzigseitiger Bericht eines Parlamentsausschusses voller willkürlicher, irgendwie hineingerutschter Aussagen wäre. Vielmehr wird um jede Formulierung gerungen. Zum Beispiel auch um diese Formulierung, die im Bericht von Heise Online als Zitat ausgewiesen wurde:
Konkret fordert die Kommission, Betreiber von sozialen Medien rechtlich zu verpflichten, »gegen schädliche und illegale Inhalte vorzugehen«.
Es sollen also Inhalte gelöscht werden.
Illegale Inhalte. Und schädliche Inhalte.
Mit rechtlicher Verpflichtung, also strafbewehrt und staatlich durchgesetzt.
Interessant.
Was ein illegaler Inhalt ist, lässt sich noch relativ einfach festmachen. Es reicht ein Blick in die geltenden Gesetze (und, um es nicht ganz so einfach zu machen, in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung). Wenn ich zu Straftaten aufriefe, wäre das klar illegal. Wenn ich Tipps gäbe, wie man ertragreicher und risikoloser Straftaten begehen kann, sollte ich ausgesprochen vorsichtig in meiner Formulierung sein, denn sonst wird das klar illegal. Wenn ich irgendein stinkendes Arschloch aus Wirtschaft oder Politik als stinkendes Arschloch bezeichnete, wäre das klar illegal. Wenn ich Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauches – gern verharmlosend als »Kinderpornografie« bezeichnet – anböte oder zugänglich machte, wäre das klar illegal. Wenn ich einen Link zu einem Download aktueller Schadsoftware legte oder gar die Schadsoftware selbst anböte, wäre das klar illegal.
Zu diesen Dingen, die vermutlich in jeder zivilisierten Gesellschaft dieser Welt nachvollzogen werden können, gibt es aber noch eine Menge teils verschrobener nationaler Eigenheiten. In der BRD wäre zum Beispiel es klar illegal, wenn ich gewisse Symbole benutzte oder öffentlich kundtäte, dass der Holocaust niemals stattgefunden hätte. In den allermeisten anderen zivilisierten Gesellschaften gälte ich dafür »nur« als ein Idiot, etwa so, als ob ich die Existenz der Gravitation leugnete – und Dummheit ist leider nirgends auf dieser Welt strafbar. Andere Staaten haben da andere Sondergesetzchen, jeder Staat nach seiner jeweiligen Staatsneurose. In einigen Staaten steht auf einen kleinen Witz über G*tt die Todesstrafe, weil die Gläubigen nicht daran zu glauben scheinen, dass G*tt sich selbst behelfen kann. Vermutlich ist er von dieser ganzen Schöpfung noch ein bisschen erschöpft…
Dass es »relativ einfach« ist, »illegale« Inhalte zu erkennen, wird im Kontext eines international genutzten Mediums also schon fragwürdig. Und ich bin nicht im Geringsten gewillt, mich beim Ausleben meiner täglichen kommunikativen Notdurft in der BRD der Legislative und Justiz einer mittelalterlichen Gesellschaft wie jener in Saudi-Arabien zu unterwerfen; ebensowenig möchte ich auf das Recht in Russland, der »Volksrepublik« China oder der »Demokratischen Volksrepublik« Korea, gemeinhin einfach als »Nordkorea« bezeichnet, achten müssen. Einmal ganz davon abgesehen, dass kein Mensch das könnte.
Gar nicht so eine einfache Frage: Ist die Beleidigung des Staatsoberhauptes im Vereinigten Königreich von Großbritannien eigentlich strafbar, oder dürfte ich dort Elizabeth II – von Gottes Gnaden Königin, Oberhaupt des Commonwealth, Verteidigerin des Glaubens… ja, wirklich! – straffrei als »auch geistig schon ausgedörrte Trockenpflaume von bemerkenswerter Grabverweigerung« bezeichnen? Und das war nur eine Frage zu den Zuständen in der Europäischen Union.
Ja, man könnte schon mit der durchgesetzten Forderung nach internationaler »Legalität« vermutlich jegliche Äußerung von Menschen im Internet wegradieren, wenn wir einmal von Katzenfotos absehen.
Aber das alles ist noch nicht genug. Und es lässt noch nicht genug Willkür beim staatlich erzwungenen Weglöschen menschlicher Mitteilungen zu.
Deshalb hat der Ausschuss des Parlamentes eines Staates ohne Verfassung, aber dafür mit einem Einhorn im Staatswappen den Begriff der »schädlichen« Inhalte erfunden. Es ist ein völlig beliebig dehnbarer Begriff, mit dem man alles verstummen machen kann, wenn man ihn je nach Laune, tagespolitischen Gestaltungsideen und in der classe politique populären ideologischen Hirnfürzen durchsetzt. Und angesichts der Tatsache, dass um solche Begriffe in Parlamentsausschüssen gerungen wird, muss ich davon ausgehen, dass dieser weit über die Legalität hinausgehende Begriff dort mit bewusster Absicht verwendet wurde.
Wann ist ein Inhalt denn schädlich? Für wen muss er schädlich sein? Für den Leser? Für die Queen? Für das Wirtschaftswachstum? Für die Idee der Gleichstellung (ich meine hier nicht die aus den Menschenrechten unmittelbar folgende Gleichberechtigung) der Frau? Für vom Aussterben bedrohte Wildpflanzen? Für Eisbären? Für die Regierung? Muss der Schaden schon eingetreten sein? Reicht die Gefahr, dass ein wie auch immer gearteter Schaden eintreten könnte, um einen Inhalt als »schädlich« betrachten zu können?
Egal.
Ein schädlicher Inhalt soll genau so strafbewehrt zum Verschwinden gebracht werden wie ein illegaler Inhalt. Es wird im gleichen Atemzug genannt und soll auf die gleiche Weise »behandelt« werden: Mit einem staatlich erzwungenen Radiergummi.
Das heißt aber nicht, dass jetzt jeder Inhalt verschwände, der für Leser und für Nutzer so genannter »sozialer Netzwerke« schädlich wäre, denn in Hinblick auf psychisch manipulative, auf die oft erschreckend präzise verdateten Zielgruppen persönlich zugeschnittene Werbekampagnen…
Politische Werbung via Microtargeting soll der Gesetzgeber nach Meinung der Kommission komplett verbieten
…ist nicht von einem generellen Verbot die Rede, sondern nur von einem Verbot für politische Werbung.
Wenn die Menschen mit aller Perfidie der satanischen¹ Manipulationskunst dazu gestupst werden, irgendwelchen überteuerten Tinnef zu kaufen, ist das offenbar nicht »schädlich« in den Augen der britischen Volksvertretung. Es wäre ja auch schädlich für die Wirtschaft, wenn man das so betrachtete.
Und diese Kleinigkeit lässt schon einen Einblick darin zu, was fortan nach Auffassung dieser Internetzensoren als »schädlich« betrachtet und verschwinden gemacht werden soll; wer den Schaden ruhig weiterhin haben darf, und von wem der Schaden abgewendet werden soll.
Es handelt sich um eine Idee einer Gruppe von Menschen, die den vielen Menschen, die täglich das Internet nutzen, offen den Krieg erklärt haben. Diese Idee reiht sich ein in vergleichbare politische Ideen, zum Beispiel in das geltende Netzwerkdurchsetzungsgesetz der BRD.
Wenn man den Anfängen erst wehrt, wenn sie schon längst am Ende angekommen sind, ist es zu spät.
¹Satan: hebr. für Feind